Reform der Pflegeversicherung 2021: Fakten und Kritik
Das Wichtigste in Kürze
- Am 11. Juni 2021 hat der Bundestag die Pflegereform über das Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheits-versorgung (GVWG) verabschiedet
- Die Neuerungen gehen den meisten Experten nicht weit genug
- Der BIVA-Pflegeschutzbund schließt sich dem Vorschlag des Bremer Professors Rothgang an: Ein „Sockel-Spitze-Tausch“ soll das Kostenrisiko von den Pflegebedürftigen auf die Versicherten verlagern
Am 11. Juni 2021 hat der Bundestag die Pflegereform über das Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) verabschiedet. Das Gesetz tritt in großen Teilen ab 01.01.2022 in Kraft, die Vorgaben zur Tarifbindung ab 01.09.2022. Die Leistungen der Pflegekasse – das umfasst sowohl das Pflegegeld als auch die Pflegesachleistungen – werden zum 01. Juli 2021 um 5 Prozent erhöht. Die so genannte Pflegereform hat viel Kritik hervorgerufen bei Fachleuten aus Wirtschaft, Pflegewissenschaft und dem BIVA-Pflegeschutzbund.
Die Neuerungen im Überblick:
- Tarifbezahlung für Pflegekräfte
- Gestaffelte Entlastung für Pflegeheimbewohner bei den Eigenanteilen: Im ersten Jahr trägt die Pflegekasse 5 Prozent des pflegebedingten Eigenanteils, im zweiten Jahr 25 Prozent, im dritten Jahr 45 Prozent und danach 70 Prozent.
- In der ambulanten Pflege werden die Sachleistungsbeträge um 5 Prozent erhöht.
- Pflegefachkräfte erhalten mehr Entscheidungsbefugnisse bei der Auswahl von Hilfs- und Pflegehilfsmitteln.
- Es werden gesetzliche Anreize für den Ausbau der Kurzzeitpflege gesetzt.
- Zur Finanzierung der Pflegeversicherung wird ein Bundeszuschuss in Höhe von 1 Mrd. Euro pro Jahr einführt; der Beitragszuschlag für Kinderlose steigt um 0,1 Prozentpunkte.
Nähere Informationen gibt es auf der Internetseite des Bundesgesundheitsministeriums
Die Pflegereform geht nicht weit genug – Eine Einschätzung des BIVA-Pflegeschutzbundes
Der BIVA-Pflegeschutzbund fordert schon lange eine Umkehr des finanziellen Risikos von den Versicherten auf die Versicherung im Sinne eines sogenannten Sockel-Spitze-Tausches. Der Betroffene sollte einen fixen Beitrag leisten und alles darüber hinausgehende Risiko von der Pflegeversicherung getragen werden – wie bei einer echten Kaskoversicherung. Notwendig ist dafür eine bundeseinheitliche Definition der Kosten, die in der Pflege entstehen. Diese sind den Pflegekassen gesetzlich zuzuweisen und dürfen kein unkalkulierbares finanzielles Risiko und drohende Sozialhilfeabhängigkeit für Menschen mit Pflegebedarf bedeuten.
Schon die ursprünglichen Reformpläne waren daher nicht geeignet, die Verbraucherinnen und Verbraucher wirklich zu entlasten. Und selbst diese Pläne wurden zuletzt aufgeweicht, in dem man keine feste Deckelung der pflegebedingten Eigenanteile auf 700 €, sondern nur eine anteilige vereinbaren will. Das Risiko von Preissteigerungen tragen auch dann alleine die Pflegeheimbewohner, die im Durchschnitt bereits über 2.000 Euro im Monat zuzahlen. In drei Jahren stiegen diese Eigenanteile weit mehr als die Renten. Bereits ein Drittel der Betroffenen kann das nicht aufbringen und fällt in die Sozialhilfe mit all den entwürdigenden Nachteilen.
Was auf den ersten Blick nach einer Erleichterung aussieht, wird vielen Menschen de facto nicht nützen. Die durchschnittliche Verweildauer in stationären Pflegeeinrichtungen liegt bei 2,5 Jahren und viele Menschen versterben bereits im ersten Jahr, wie aus dem DAK Pflegereport hervorgeht. So gesehen hätte ein „harter Deckel“ den Pflegebedürftigen mehr genützt.
Der Sockel-Spitze-Tausch hätte dagegen pflegebedingte Altersarmut teilweise verhindern können. Aus BIVA-Sicht ist von der groß angekündigten Pflegereform nicht viel mehr als ein „Reförmchen“ übrig geblieben.
Finanzierungsreform auch auf Länderebene nötig
Darüber hinaus ist es auf lange Sicht nicht damit getan, wenn der Bund die Eigenanteile an den pflegebedingten Kosten deckelt – schließlich machen die seit Jahren steigenden Investitionskosten ein „zweites Heimentgelt“ aus: mehr als 400 € waren es bereits 2018 im bundesweiten Durchschnitt. Die Aufgabe, die Investitionskosten zu fördern, liegt bei den Ländern. Mit der Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995 hatten sich Bund und Länder darauf geeinigt, dass Einsparungen, die den Ländern als Träger der Sozialhilfe durch die Einführung der Pflegeversicherung entstehen, zur Investitionskostenfinanzierung von Pflegeeinrichtungen herangezogen werden sollten. Gesetzlich verankert ist dies in § 9 SGB XI („Zur finanziellen Förderung der Investitionskosten der Pflegeeinrichtungen sollen Einsparungen eingesetzt werden, die den Trägern der Sozialhilfe durch die Einführung der Pflegeversicherung entstehen.“) Eine Förderung ist als Objekt- oder als Subjektförderung möglich. Letztere in Form von Pflegewohngeld bieten zurzeit allerdings nur Bayern, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein.
BIVA vertritt Verbraucherrechte
Ursprüngliche Pläne einer Reform der Pflegeversicherung 2020
Bereits im November 2020 hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn die Eckpunkte für eine Reform der Pflegeversicherung vorgelegt, die auf drei Säulen beruhen soll:
- Der Eigenanteil für die Pflege im Heim soll auf maximal 700 Euro monatlich für 36 Monate gedeckelt werden.
- Verbesserung der Pflege zuhause durch ein jährliches Pflegebudget, mit dem Kurzzeit- und Verhinderungspflege für Pflegebedürftige ab Pflegegrad 2 bezahlt wird. Zudem sollen pflegende Angehörige mehr Leistungen bekommen: Pflegegeld und Pflegesachleistungen sollen kontinuierlich nach festen Sätzen erhöht werden.
- Pflege soll regelhaft besser entlohnt werden. Dafür sollen nur die ambulanten Pflegedienste und Pflegeheime zugelassen werden, die nach Tarif oder tarifähnlich bezahlen.
Die Eckpunkte sehen zudem vor, dass gut ausgebildetes Fachpersonal z.B. bei Pflegehilfsmitteln eigenständige Verordnungsbefugnisse, also mehr Verantwortung erhalten soll. Zudem soll ein Modellprogramm für den Einsatz von Telepflege gesetzlich verankert werden.
Zum 01. Januar 2021 ist zudem das Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz in Kraft getreten. Es enthält verschiedene Neuerungen zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung: u.a. Zuschüsse zur finanziellen Stabilisierung der gesetzlichen Krankenkassen, 20.000 zusätzliche Stellen für Pflegehilfskräfte in der Altenpflege und Verbesserungen für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen.
Positive Kritik auf seine Pflegereformpläne erhielt Spahn im Januar 2021 von der Universität Bremen. Eine Studie des dortigen Forschungszentrums Ungleichheit und Sozialpolitik (socium) hat errechnet, dass die geplante Pflegereform funktionieren würde, indem sie die Zahl der Sozialhilfeempfänger unter den Pflegeheimbewohnern deutlich senke – und zwar von derzeit 33 Prozent auf 25 Prozent aller Heimbewohner und damit auf die niedrigste Fürsorgequote seit mehr als 20 Jahren.
Auch der Bremer Pflegewissenschaftler Heinz Rothgang befürwortete den Vorschlag von Spahn, die Eigenanteile für die Heimbewohner zu deckeln. Einen solchen Sockel-Spitze-Tausch hatte Rothgang selbst in zwei Gutachten vorgeschlagen, die er in den Jahren 2017 und 2019 für die Initiative Pro Pflegereform verfasst hatte, der auch die Evangelische Heimstiftung angehört. Mit dem Sockel-Spitze-Tausch würde das System der Pflegeversicherung vom Kopf auf die Füße gestellt, weil die Risiken von allen Versicherten und nicht von den einzelnen Heimbewohnern getragen würden.
Spahn passt eigene Reformpläne an
Mitte März 2021 „besserte“ Spahn sein eigenes Eckpunktepapier nach. Der aktuelle Arbeitsentwurf vom 15. März sieht nun ein Stufenmodell für den Eigenanteil vor: Je länger ein Bewohner in einem Pflegeheim lebt, desto geringer ist sein Eigenanteil. Im ersten Jahr des Pflegeheim-Aufenthalts sollen die Versicherten bzw. ihre zahlungspflichtigen Angehörigen die vollen Eigenanteile tragen. Im zweiten Jahr sollen die Eigenanteile dann um 25 Prozent sinken, nach mehr als 24 Monaten um die Hälfte. Bei Pflegebedürftigen, die 36 Monate und länger stationär betreut werden, soll sich der Eigenanteil gar um 75 Prozent reduzieren.
Aktuell müssen Pflegeheimbewohner im bundesweiten Durchschnitt 2.068 Euro im Monat aus eigener Tasche zahlen. Davon entfallen 831 Euro auf die reinen Pflegekosten, der Rest auf Unterkunft und Verpflegung (779 Euro) sowie Erhalt und Modernisierung der Heime (458 Euro). Das vorausgesetzt, würden die geplanten Eigenanteile für die reinen Pflegekosten im Heim wie folgt sinken: im zweiten Jahr durchschnittlich um 208 Euro auf 623 Euro, im dritten Jahr um 416 Euro auf 415 Euro und ab dem vierten Jahr um 624 auf 207 Euro.
Die Mehrausgaben werden in dem Gesetzentwurf mit 6,3 Milliarden Euro pro Jahr angegeben. Allein die Begrenzung der Eigenanteile schlägt dabei mit rund 2,5 Milliarden Euro zu Buche. Zur Deckung der Kosten soll der Bund einen dauerhaften Steuerzuschuss an die Pflegeversicherung von 5,1 Milliarden Euro zahlen. Die Bundesländer sollen sich nach dem Spahn-Entwurf mit rund einer Milliarde Euro an den Investitionskosten für Pflegeheime beteiligen: pro vollstationär Betreutem mit einem monatlichen Zuschuss von 100 Euro. Zusätzlich will Spahn den Pflegevorsorgefonds ausbauen, indem kinderlose Versicherte statt 0,25 künftig 0,35 Beitragssatzpunkte zusätzlich zahlen. Die Mehreinahmen von rund 400 Millionen Euro jährlich würden dann in den Pflegevorsorgefonds fließen, mit dem der Bund seit 2015 einen Kapitalstock aufbaut, um die Beitragserhöhungen in der alternden Gesellschaft abzumildern.
Kritik am Reformmodell Spahns
Auch an Spahns nachgebessertem Reformmodell gab es viel Kritik bei Fachleuten aus Wirtschaft und Pflegewissenschaft und sogar aus den eigenen Reihen. Vor allem sind hier die Argumente des Bremer Pflegewissenschaftlers Rothgang und des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zu nennen.
Kritik vom Pflegewissenschaftler Rothgang
Rothgang sieht im neuen Arbeitsentwurf eine deutliche Verschlechterung zum Eckpunktepapier. Er kritisiert die relative Deckelung der Eigenanteile des Staffelmodells, mit dem Heimbewohnerinnen und -bewohner erst nach zwölf Monaten finanziell entlastet werden. Er geht davon aus, dass etwa 25 Prozent aller Bewohnerinnen und Bewohner nicht länger als zwölf Monate im Pflegeheim sind und 40 Prozent länger als drei Jahre. Diese Gruppen würden ihm zufolge gar nicht bzw. weniger entlastet als durch die einheitliche Deckelung von 700 Euro aus Spahns erstem Entwurf. Der „relative Deckel“ ist laut Rothgang damit alles andere als gerecht und sozial ausgewogen. Die Eigenanteile blieben unkalkulierbar und würden ebenso wie die Sozialhilfeabhängigkeit mittel- und langfristig wieder steigen.
Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft
Eine aktuelle Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zur geplanten Pflegereform bezweifelt die Demografiefestigkeit und Nachhaltigkeit von Spahns Vorhaben und befürchtet stattdessen umfangreiche Umverteilungseffekte. Demnach sind trotz der vorgesehenen Steuerzuschüsse in Milliardenhöhe steigende Beiträge zur Pflegeversicherung zu erwarten: von jetzt 3,05 Prozent bis 2030 auf rund 3,5 Prozent und bis 2050 auf knapp vier Prozent. Weiterhin sieht die Autorin der Studie es als nicht geklärt an, ob eine Tarifbindung für die Beschäftigung von Pflegekräften aufgrund der Tariffreiheit überhaupt umsetzbar ist, und ob ein Zuschuss aus Steuermitteln zur Pflegeversicherung im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe möglich ist.