Herausforderungen der Medikamentenversorgung von älteren Menschen
Etwa 80 Prozent der in Deutschland verschriebenen Medikamente werden von den ca. 20 Prozent über 65 eingenommen. Einen großen Anteil daran haben multimorbide und pflegebedürftige Heimbewohner. Eine Studie der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität (PMU) Salzburg hat ergeben, dass Pflegeheimbewohner im Durchschnitt rund 11 verschiedene Medikamente einnehmen. Angesichts dieser Zahlen wundert es nicht, dass nach den Zahlen aus dem 4. Pflege-Qualitätsbericht des Medizinischen Dienstes (MDK) in ca. 98.000 Fällen der Umgang mit Medikamenten in stationären Einrichtungen „nicht sachgerecht“ ist. Neben der schwer zu überblickenden Vielzahl an verschriebenen Medikamenten sind grundlegende Probleme, dass viele Pflegekräfte nicht regelmäßig im korrekten Umgang mit Medikamenten werden und klare Verantwortlichkeiten fehlen.
Lösungsansätze: Bessere Vernetzung und klare Verantwortlichkeit
Im Sinne der Betroffenen sind diese Mängel nicht hinzunehmen und müssen dringend behoben werden. Die tägliche Einnahme von mehr als fünf Medikamenten (Polypharmazie oder Polymedikation) hat, besonders für ältere Menschen, ein hohes Schadenspotential. Hierzu gibt es erprobte Methoden, um die eingenommenen Medikamente zu minimieren. Dazu sind vor allem eine bessere Vernetzung der Beteiligten und die Einbindung des Patienten notwendig (Ein Ansatz wird beispielsweise hier vorgestellt).
Dabei ist die entscheidende Frage, bei wem die Informationen zu Gesundheitszustand und zu verordneten Medikamenten zusammenlaufen. Bisher ist dies nicht eindeutig festgelegt, so dass meist der Patient selbst, der Hausarzt oder ggf. der Verantwortliche im Pflegeheim (Pflegedienstleitung) die Medikamentenvergabe koordiniert. Im Rahmen des „Neusser Pflegetreffs“ plädierte NRW-Gesundheitsministerin Barbara Steffens (Grüne) in diesem Zusammenhang dafür, neben den Ärzten insbesondere auch die Apotheker in die Pflicht zu nehmen, bei denen die verschiedenen Verordnungen zusammenlaufen.
Eine andere Lösung wäre es, einen Facharzt für Geriatrie verbindlich vorzugeben, bei dem dann alle Verordnungen und Maßnahmen zusammenkommen. Dies würde das notwendige Fachwissen sicherstellen, denn nicht jeder Mediziner kennt die besonderen Anforderungen der Altersmedizin, beispielsweise die sogenannte Priscus-Liste der für Ältere potentiell ungeeigneten Medikamente. Zudem könnte man die Vertretung dieses Arztes verbindlich regeln und so sicherstellen, dass alle erforderlichen Informationen über den Patienten übergeben werden. In diese Richtung weisen die Kooperationsverträge, die zwischen Ärzten und Pflegeeinrichtungen geschlossen werden können.
Kooperationsverträge von Pflegeheimen mit Arzt oder Apotheke
Es ist verbreitete Praxis, dass Pflegeeinrichtungen Zusatzvereinbarungen mit Apotheken schließen. Ebenso ist es nicht ungewöhnlich, wenn auch seltener, dass ein bestimmter Arzt wöchentlich in einer Einrichtung für Ältere vorbeikommt. Diese Kooperationen sind grundsätzlich sehr sinnvoll, um eine verlässliche Versorgung sicherzustellen. Viele Ärzte besuchen nämlich keine Einrichtungen, da solche Hausbesuche für sie relativ aufwändig sind. Eine Kooperation mit der Einrichtung, an der eine ausreichende Anzahl an Bewohnern teilnimmt, kann dazu die notwendige Planungssicherheit geben. Der Heimarzt oder der Vertragsapotheker sind dann die Ansprechpartner für Bewohner wie Einrichtung und hat den Überblick über die verschriebenen Medikamente. Manchmal sind im Rahmen dieser Kooperationen auch eine erweiterte Rufbereitschaft des Arztes bzw. der Praxis abends oder am Wochenende möglich.
Nachteile von Kooperationsvereinbarungen
Sowohl Kooperationsverträge mit Ärzten als auch mit Apotheken haben aber auch Nachteile. So haben Apotheken immer auch ein finanzielles Interesse. Inwieweit sich der Apotheker die notwendige Zeit für die Medikation des Einzelnen nehmen kann, die über seine Beratungspflicht weit hinausgeht, hängt auch davon ab, ob er es sich dies leisten kann, da keine finanziellen Anreize damit verbunden sind. Zudem ist fraglich, inwieweit ein Apotheker im Zweifelsfall wirklich mit dem Arzt diskutieren möchte, da er auf die Vermittlung von Patienten durch den Arzt angewiesen ist. Ein weiteres Problem ist, dass die Apotheken zum Teil das „Verblistern“, d. h. das Umpacken der Medikamente für den einzelnen Patienten, auslagern. Hintergrund ist z.T. die Wirtschaftlichkeit dieses „Outsourcings“. Zudem kann nicht jede Apotheke die verschärften räumlichen Standards für das Verblistern nach der Apothekenbetriebsverordnung erfüllen. Wenn aber der Apotheker die Medikamente nicht mehr selbst stellt, hat er nicht ohne zusätzliche Aufwände den vollen Überblick über die Medikamentenvergabe an den Einzelnen.
Problematisch ist ein eigener Heimarzt dann, wenn der Mediziner nicht mehr frei arbeitet, sondern im Sinne der Einrichtung, z.B. wenn Medikamente auf Zuruf, ohne den Patienten gesehen zu haben, verschrieben werden. Solche Konstellationen sind uns aus unserer Beratungspraxis bekannt. Zudem kann es immer im Arzt-Patienten-Verhältnis zu Spannungen kommen, die die medizinische Versorgung beeinträchtigen können.
Recht auf freie Arzt- und Apothekenwahl
Nicht jeder Patient hat Vertrauen zu dem einen Arzt. Daher gibt es in Deutschland generell ein Recht auf freie Arzt- und Apothekenwahl. Dieses gilt immer und ist in die meisten Wohn- und Betreuungsverträge („Heimverträge“) explizit mit aufgenommen. Kooperationsvereinbarungen von stationären Einrichtungen mit Ärzten sind entsprechend auch nicht verpflichtend, sondern eine Soll-Vorschrift nach den Regelungen des Sozialgesetzbuches (§ 119b SGB V). Pflegeheimbewohner benötigen einen (logistischen) Service, der es ihnen erlaubt, dieses Recht auf Wahlfreiheit wahrzunehmen. Zudem müssen Kontrolle und Beratung gewährleistet werden, auch wenn mehrere Ärzte oder Apotheker eingebunden sind. Auch hierfür gibt es bereits Ansatzpunkte. Im Bundesland NRW gibt es beispielsweise die Funktion des Amtsapothekers, in dessen Zuständigkeit es u.a. fällt, Lagerung von und Umgang mit Arzneimitteln in Alten- und Pflegeheimen zu überprüfen.
Einbinden aller Beteiligten – auch des Patienten
Im Sinne der Betroffenen braucht es einerseits verbindlicher Strukturen, klarer Verantwortung sowie Fachwissen und andererseits die Wahrung der Persönlichkeitsrechte, d.h. er muss über seine medizinische Versorgung selbst (mit)entscheiden dürfen. Auch wenn die Medikamentenvergabe von einem Verantwortlichen koordiniert wird, kann dies nur in Zusammenarbeit aller Beteiligten funktionieren, von Ärzten, Apothekern, Pflegepersonal, Patienten und Angehörigen. Eine „Überwachung“ durch einen Entscheidungsträger kann schon deshalb nicht funktionieren, da es viele Wege gibt, (auch unbewusst) an pharmakologisch relevante Präparate zu kommen, z.B. in Drogerien, Versandapotheken, den Vorrat der Angehörigen oder Apotheken, die zufällig aufgesucht werden. Auch wenn ein Heimarzt oder ein Kooperationsapotheker alle vergebenen Medikamente koordiniert, kann er nicht immer anwesend sein, wenn ein Pflegeheimbewohner beispielsweise akut ins Krankenhaus eingeliefert wird, wo anders (und meistens stärker) Medikamente verbreicht oder sogar nochmals verordnet werden. Am sinnvollsten für den Betroffenen ist daher eine gemeinsame Planung aller Beteiligten, insbesondere auch die Einbindung des Pflegebedürftigen und seiner Angehörigen.