Pflegeschutzbund e. V.

Tagungsbericht: „Pflege-WGs zwischen Selbstbestimmtheit, Schutz und Kontrolle“

Pflege-Wohngemeinschaften boomen. Sie bieten Antworten auf den Wunsch nach einem möglichst selbstbestimmten Leben bis ins hohe Alter. Sie versprechen Häuslichkeit und professionelle Versorgung in einem. Pflege-WGs sind vermeintlich unbürokratischer und preiswerter als Heime. Auch die Politik setzt auf alternative Wohn- und Pflegeformen, auch um dem steigenden Pflegebedarf zukünftig gerecht zu werden.

Rechtlich betrachtet bedeuten Pflege-WGs im Vergleich zu stationären Einrichtungen weniger staatliche Aufsicht und Kontrolle. Weniger Kontrolle bedeutet aber auch weniger staatlichen Schutz für die oftmals schutzbedürftigen Pflegebedürftigen in den höheren Pflegegraden. Beispielsweise sind viele Bewohner kognitiv nicht in der Lage, selbst ihre Wünsche zu äußern. Für sie müssen auch alternative Formen der Versorgung einen schützenden Raum bieten. Leitfrage der diesjährigen BIVA-Fachtagung in Berlin war, wie die Balance zwischen Selbstbestimmtheit, Schutz und Kontrolle gelingen kann.

Kontrolle steht in einem gewissen Widerspruch zur ursprünglichen Idee von Pflege-WGs als Orte der Selbstbestimmtheit. Für Andrea von der Heydt, Geschäftsführerin des Vereins Selbstbestimmtes Wohnen im Alter, führt der Weg hin zu Verbesserungen entsprechend nicht über ein Mehr an Kontrolle, sondern über bessere Beratung und Begleitung im Alltag. Beratungsstellen und Pflegestützpunkte seien nicht genügend mit der Komplexität der WG als Wohnform vertraut. Für Angehörige und Bewohner sei Organisation und Rechtslage viel zu kompliziert.

Diese Komplexität – und auch bestehende Probleme – zeigen sich auch in der zunehmenden Anzahl an Beratungsfällen beim BIVA-Beratungsdienst, wie Ulrike Kempchen, Leiterin Recht beim BIVA-Pflegeschutzbund, berichtete. Waren Anfragen zu Pflege-Wohngemeinschaften bis Ende 2016 noch kaum ein Thema, so stiegen sie seitdem sprunghaft an. Die Prognose für das Jahr 2018 liege bei mehr als 10 Beratungen pro Monat – Tendenz steigend. Typische Fragen seien vertragsrechtlicher Art, etwa ob das Wohn- und Betreuungs-Vertragsgesetz (WBVG) anwendbar sei. Ähnlich gelagert sei die ordnungsrechtliche Frage, ob das jeweilige Landesheimgesetz Anwendung findet. Im Problemfall könne dies entscheidend sein, da der besondere Verbraucherschutz nur greifen bzw. die zuständige Aufsichtsbehörde nur tätig werden kann, wenn das WBVG bzw. die Heimgesetzgebung anwendbar sind. Für den Laien sei dies leider kaum zu erkennen, da es auf die konkrete Vertragsgestaltung ankomme, so Kempchen. Darüber hinaus gebe es einige Anfragen zu Finanzierungsproblemen und leistungsrechtlichen Fragestellungen.

Die Finanzierung von Plätzen in Pflege-Wohngemeinschaften war durchgängiges Thema über den ganzen Tag. So wurde mit der landläufigen Meinung aufgeräumt, dass Pflege-Wohngemeinschaften günstiger seien als eine stationäre Unterbringung. Diese Vermutung liegt nahe, da mit der Etablierung des Grundsatzes ‚ambulant vor stationär‘ auch eine finanzielle Entlastung angedacht war, die bei der ambulanten Versorgung zu Hause aufgrund der Pflegeleistungen der Angehörigen sicherlich gegeben ist. Die Pflege-WG leistet aber faktisch Vollversorgung und ist entsprechend nicht billiger als der Platz im Pflegeheim – das betonten fast alle Referenten. Nadine-Michèle Szepan, Abteilungsleiterin Pflege beim Bundesverband der AOK, ging sogar einen Schritt weiter und konnte mit Zahlen belegen, dass die Versorgung in einer Pflege-WG die Kosten der Heimunterbringung übertreffen.

Voraussetzungen für das Gelingen anbieterorganisierter WGs stellte Heike Nordmann, Referentin für Tagespflege und WGs beim Landesverband freie ambulante Krankenpflege NRW (LfK), dar. Probleme könnten etwa auftreten, wenn Pflegekassen Leistungen verweigerten. Zudem hätten die Aufsichtsbehörden großen Einfluss auf Zulassung und Konzeption sowie seien kommunale Brandschutzregeln mitunter nur schwer umzusetzen, wenn dieselben Maßstäbe wie an ein Pflegeheim angelegt würden. Notwendig sei daher eine Zusammenarbeit und ein Ernstnehmen des WG-Konzepts von allen Beteiligten: Bewohnern, Angehörigen, gesetzlichen Vertretern, Pflegediensten und kommunalen Behörden.

Astrid Grunewald-Feskorn, Referentin Gesundheit und Sozialraunentwicklung bei der Landesberatungsstelle Neues Wohnen Rheinland-Pfalz, brach eine Lanze für eine koordinierende und moderierende Person, die nach § 38a SGB XI in der WG installiert werden kann. Diese könnte den WG-Zusammenhalt und deren Konzept nachhaltig fördern, gerade angesichts hoher Fluktuation und großer Aufwände für die Angehörigen. Dieser Mühen seien sich viele bei Einzug nämlich gar nicht bewusst. Probleme entstünden oft, weil viele Angehörigen nicht wüssten, worauf sie sich einlassen. Diese wollten sowohl die „kuschelige“, familiäre Atmosphäre der Pflege-WG, aber auch alle Leistungen wie in einem Pflegeheim, was nicht möglich sei.

Dass Gründung und Etablierung von Pflege-WGs komplex ist, liegt auch daran, dass es bundesweit keine einheitlichen und verbindlich formulierten Qualitätskriterien gibt. Die einzelnen Länder haben teils sehr unterschiedliche Ansätze. Beispielhaft berichtete Sandy Großmann von der Aufsicht für unterstützende Wohnformen des Landesamts für soziales und Versorgung Brandenburg über das Konzept in seinem Bundesland. Dort unterscheidet das Heimrecht drei Kategorien von WG-Formen: WGs ohne Selbstverantwortung, WGs mit eingeschränkter Selbstverantwortung und WGs mit uneingeschränkter Selbstverantwortung. Der Abstufung entspricht die Zuständigkeit des Brandenburgischen Pflege­ und Betreuungswohngesetz: bei denen ohne Selbstverantwortung ist es voll zuständig, bei denen mit eingeschränkter nur bedingt und bei voll selbstverantworteten WGs gar nicht. Für die Pflege-WG sei demnach nicht Selbstbestimmung entscheidend, die ja in jeder Wohnform gegeben sein sollte, sondern Selbstverantwortung. Großmanns Aufsichtsbehörde verstehe sich dabei als kooperierende und vernetzt agierende Behörde mit dem Ziel, Qualität zu sichern und passende Versorgung sicherzustellen. Er plädierte für individuelle und nicht zu bürokratische Lösungen, die, wird diese Selbstverantwortung tatsächlich gelebt, die Idee der Wohngemeinschaft bewahren.

Nadine-Michèle Szepan vom AOK-Bundesverband übte scharfe Kritik am Konzept der WGs, indem sie die Meinung vertrat, dass die meisten Wohnformen, die formal als WG geführt würden, gar keine seien. Szepan bezog sich u.a. auf den Vorschlag von Bayerns Gesundheits-und Pflegeministerin Melanie Huml (CSU) für eine grundlegende Pflegereform, nach der ambulante und stationäre Angebote besser vernetzt werden sollen und der Unterstützungsbedarf unabhängig von der Wohnform entscheidend sei. Szepan plädierte in diesem Sinne für einen einheitlichen Kostenträger für die Pflege mit einer ganzheitlichen Budgetlösung, für deren Finanzierung die Pflegeversicherung zuständig sein solle.

Pflege-WGs sind insofern ein besonders „politisches Thema“, als sie politisch gewollt sind und gefördert werden. Ein Grund dafür ist sicherlich, eine weitere Alternative zu schaffen, damit der Pflegebedürftige seine Ideallösung wählen kann. Zudem sind Pflege-WGs im Gegensatz zum regulierten Markt der Pflegeheime eine (noch) weitgehend ungeregelte Versorgungsform.

In diesem Spannungsfeld von Innovation und Regulierung, Schutz und Kontrolle bewegte sich die abschließende Podiumsdiskussion mit den Sprecherinnen der Opposition und den Teilnehmern. Bürokratie und hohe Kosten von Pflege-WGs bemängelte Sonja Kemnitz, Referentin für Pflegepolitik (Die Linke). Zentrales Problem sei, dass es kein bundeseinheitliches Heimgesetz gebe. Dem stimmte Nicole Westig (FDP) zu. Kordula Schulz-Asche (Grüne) gab aber zu bedenken, dass eine Abkehr vom Prinzip der Landesheimgesetze auch den Föderalismus in Frage stelle. Und damit würde man u.a. auch innovative Projekte behindern.

Unkonventionelle und nicht standardisierte Lösungen sind aber schwer zu planen, zu überwachen und zu steuern. Diese Aufgabe – darin waren sich die Politikerinnen von Grünen, Linken und FDP einig – soll die Kommune übernehmen. In den Kommunen sollen eine detaillierte Bedarfsplanung vor Ort geleistet sowie Angebote und Bedarfe koordiniert werden.

Individuelle, passgenaue Lösungen vor Ort sind sicherlich der Idealzustand. Die Frage ist nur, ob dies ein realistisches Ziel ist. Angesichts der sehr unterschiedlichen (finanziellen) Möglichkeiten der Kommunen in Deutschland kann so schwerlich eine flächendeckende Lösung erzielt werden. Zudem muss man immer mitbedenken, was folgt, wenn die Lösung eben nicht funktioniert, wenn beispielsweise Pflege-WGs zu Renditeobjekten von Immobilienfirmen werden – das ist die Sicht des Verbraucherschutzes, wie sie Corinna Schroth, stellvertretende Vorsitzende des BIVA-Pflegeschutzbundes, in der Podiumsdiskussion vertrat. Aus diesem Blickwinkel heraus dürfen die Lösungen nicht in solchem Maß individuell sein, dass Schutzmechanismen und effektive Verbraucherrechte nicht mehr greifen.

Viele drängende Probleme – so viel wurde aus der Podiumsdiskussion wie den Vorträgen klar – bedürfen noch der Lösung. Die Politikerinnen auf dem Podium appellierten dabei auch an das Engagement von Betroffenen und Interessierten: „Politik reagiert auf Zuruf“ – ein Appell, sich einzumischen und ein Auftrag für den BIVA-Pflegeschutzbund weiterhin auf Probleme und Lösungsansätze hinzuarbeiten und hinzuweisen.

Hier finden Sie die Dokumentation der einzelnen Beiträge.

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