In der Pflege geht es um viel Geld. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts gab es 2015 rund 2,9 Millionen pflegebedürftige Menschen in Deutschland, was zu Ausgaben von rund 31 Mrd. Euro geführt hat; Tendenz steigend. Wir werden in Deutschland immer älter und die Medizin macht weitere Fortschritte in der Lebenserhaltung. Es ist also kein Wunder, dass Pflege längst zu einem Wirtschaftsfaktor geworden ist.
Kein echter Verbrauchermarkt
Dies ist an sich nichts Verwerfliches, zumal die Pflegeversicherung selbst auf die regulierenden Wirkungen der Marktwirtschaft setzt. Allerdings ist die Kostenoptimierung ebenfalls ein typischer Ausdruck der Marktwirtschaft und kann sich im Pflegesektor verheerend auswirken. Denn wenn die Pflegebedürftigkeit allein zu einem Renditeobjekt wird, öffnet dies schwarzen Schafen und betrügerischen Absichten Tür und Tor. Wie kann man Betroffene davor schützen? Tatsache ist, dass wir im Pflegesektor keinen echten Markt mit kritischen Marktteilnehmern haben, die sich die qualitativ besten Angebote heraussuchen können, sondern hilfebedürftige Menschen. Diese sind von der Versorgung durch Dritte abhängig und daher gezwungen zu nehmen, was sie an – oft unzureichenden – Versorgungsangeboten bekommen können.
Die großen Probleme liegen im Kleinen
Gerade in der letzten Zeit sind einige Pflegeskandale und Machenschaften von auf Abrechnungsbetrug ausgerichteten ambulanten Pflegediensten öffentlich geworden. Es entsteht schnell der Eindruck, mafiöse Strukturen hätten sich des Pflegesektors bemächtigt. Für die aufgedeckten Fälle in Berlin und NRW ist dies sicherlich auch richtig.
Diese skandalträchtigen Verbrechen verdecken aber mitunter einen klaren Blick auf die systematischen Probleme, die überall gegeben sind. Häufig sind es eher die kleinen „Unregelmäßigkeiten“, die die Pflegebeziehungen belasten. Beim Informations- und Beratungsdienst des BIVA-Pflegeschutzbundes melden beispielsweise immer wieder Betroffene und deren Angehörige, dass Kostenvoranschläge nicht erstellt oder zu niedrig kalkuliert werden, dass Leistungsnachweise „nachbearbeitet“ oder von kognitiv eingeschränkten Personen unterzeichnet sowie abgerechnete Leistungen oder Zeitkontingente nicht erbracht werden. Auch der Einsatz nicht qualifizierter Personen, die als Fachkräfte abgerechnet werden, wird immer wieder thematisiert (vgl. Artikel: BIVA fordert effiziente Verfolgung von Abrechnungsbetrug im Pflegesektor).
Gegen schwarze Schafe wird nicht effektiv genug vorgegangen
Viele Betroffene haben Angst, gegen solche Unregelmäßigkeiten anzugehen, da sie eine Kündigung des ambulanten Dienstes befürchten und ein Ersatz auf dem Markt nicht zu bekommen ist. Denn das Angebot an Pflegediensten deckt bei Weitem nicht die Nachfrage. So haben die Pflegedienst-Betreiber die freie Auswahl unter potenziellen Kunden und können nicht zum Abschluss eines Vertrages gezwungen werden. Bei anderweitigen Dienstleistungen könnte sich ein qualitativ schlechter Dienstleister nicht lange auf dem Markt halten. Aber wegen des riesigen Bedarfs an pflegerischer Versorgung bleiben auch nachlässige Dienste am Markt. Deren Verhalten fällt auch auf diejenigen Anbieter zurück, die qualitativ gute Dienste erbringen. Erschwerend hinzukommt, dass die Pflegekassen kaum in der Lage sind, allen Beschwerden nachzugehen.
„Kostenoptimierung“ in Pflege-WG und Pflegeheim
Neben solchen unrechtmäßigen Missständen sind es aber vor allem auch die legalen Möglichkeiten der „Kostenoptimierung“, die das Portemonnaie der Betroffenen belasten, sich negativ auf das gesamte Pflegesystem auswirken und für die Verbraucher im täglichen Leben ausschlaggebend sind.
Pflege-Wohngemeinschaften zum Beispiel kosten mitunter mehr als eine stationäre Versorgung, obwohl es noch nicht einmal geeignete Qualitätssicherungsinstrumente für diese Wohnform gibt. Denn das Leistungsrecht kennt die Wohngemeinschaft als solche eigentlich gar nicht. Geschicktes Kombinieren von Leistungsansprüchen der Versicherten kann somit fast zu einer Verdoppelung der Zuschüsse der Pflegeversicherung zulasten der Allgemeinheit führen. Die gesonderten vertraglichen Vereinbarungen und Abrechnungen von Wohnkosten, Betreuung, Pflege, Haushaltskasse und sonstigen Leistungen können die Bewohner finanziell schwer belasten – und zwar ganz legal und bei geschickter Vertragsgestaltung auch unter dem Radar der Aufsichtsbehörden nach den jeweiligen Landesheimgesetzen. Vollumfänglich vom Anbieter nach vorgegebener Struktur geführte Konstrukte können dabei schon einmal auf dem Papier zu vermeintlich selbstbestimmten Wohngemeinschaften werden.
Auch im stationären Bereich liegt einiges im Argen: So lassen die Kostenstrukturen in stationären Einrichtungen die Verbraucher als Vertragspartner komplett außen vor. Die Entgelte für Pflege, Unterkunft und Verpflegung werden im Rahmen von Pflegesatzverhandlungen ausgehandelt – und zwar nur zwischen den Leistungserbringern und den Kostenträgern. Die Pflegekassen verhandeln dabei als Sachwalter ihrer Versicherten, obwohl sie selbst lediglich die gesetzlich festgelegten Zuschüsse (je nach Pflegegrad) zahlen. Sie bestimmen so über die Portemonnaies der pflegebedürftigen Menschen, die sich nicht gegen das Ergebnis wehren können.
Die Ergebnisse der Verhandlungen gelten für Empfänger von SGB XI-Leistungen automatisch als angemessen. Ob diese Angemessenheit im Einzelfall auch tatsächlich zutrifft, steht dahin. So können z.B. auch Kosten, die nicht unmittelbar aus dem Pflegeverhältnis entspringen, von großen Pflegekonzernen als sogenannte Overheadkosten eingepreist werden. Diese können regelmäßig ebenso zu Gewinnen bei renditeorientierten Anbietern führen, wie z.B. nicht weitergegebene Synergieeffekte und Einsparpotentiale.
Auch Pflegeimmobilien sind in den Fokus von Anlegern gerückt, gezahlt wird im Endeffekt vom Verbraucher.
Der leergefegte Personalmarkt tut sein Übriges. Können Stellen über einen längeren Zeitraum nicht besetzt werden, müssten die Kostensätze eigentlich zum Wohl der Bewohnerinnen und Bewohner angepasst werden, was selten geschieht. Eigentlich hätten die Pflegebedürftigen und deren Angehörige dann das Recht, zu mindern, also nur noch ein angemessen herabgesetztes Entgelt zu zahlen (vlg. Artikel Nichtleistung oder Schlechtleistung). Menschen, die von der Hilfe Dritter abhängig sind, mindern in der Regel aber nicht, weil sie Repressalien fürchten und zahlen brav weiter. Das bedeutet, sie werden Opfer von Qualitätseinbußen und Einsparungen, obwohl sie den vollen Preis entrichten.
Pflegekassen kommen Minderungsauftrag nicht nach
Leider verhalten sich viele Pflegekassen in solchen Fällen eher restriktiv. So ergaben BIVA-Recherchen, dass in den letzten zwei Jahren in acht Bundesländern nur in einem einzigen Fall aufgrund von Pflegemängeln durch die Kasse eine Minderung vorgenommen wurde. Das gleiche Verhalten zeigen Kassen auch, wenn Angehörige den Missbrauch von zusätzlichen Betreuungskräften als Helfer in der Pflege oder der Hauswirtschaft anzeigen. Das System ermöglicht es somit, Gewinne zu generieren, ohne eine entsprechende Qualität zu bieten: Weil es keinen echten Wettbewerb gibt, wie es in einer funktionierenden Marktwirtschaft Voraussetzung ist.
Fazit:
Die Probleme im derzeitigen Pflegesystem sind vielfältig:
Es fehlt an Transparenz, Qualitätseinbußen werden nicht geahndet, und der fehlende Wettbewerb verhindert eine echte Marktregulierung. Die Pflegeselbstverwaltung legt ohne jegliche Beteiligung der Verbraucher die Leistungen, Vergütungen und Qualitätskriterien fest. Qualitätsdefizite werden nicht geahndet und die Ergebnisse von Überprüfungen werden nicht veröffentlicht – zumindest nicht in einer Form, die den Verbraucher befähigen würde, sich ein Bild zu machen, Angebote miteinander zu vergleichen und eine bewusste Auswahl zu treffen.
Der Markt reguliert sich nicht, wie bei Verabschiedung der Pflegeversicherung erhofft, indem sich gute Qualität letztendlich beim Kunden durchsetzt. Denn zu viele von der Pflege abhängige Verbraucher stehen viel zu wenigen Angeboten am Markt gegenüber, mit restriktiven Versicherungen als Sachwaltern im Hintergrund, die nicht einmal in Konkurrenz zueinander stehen. Ohne einen echten Verbrauchermarkt lohnen sich somit „optimierte“ Kosten und weniger Qualität nach wie vor für diejenigen, die mit der Pflegebedürftigkeit anderer Rendite machen wollen.
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