Digitalisierung in der Altenpflege
Die Digitalisierung der Lebenswelt macht auch vor der Altenhilfe nicht halt. In manchen Bereichen sind digitale Techniken und Hilfsmittel bereits verbreitete Praxis, in anderen gibt es großen Nachholbedarf – und darin liegt ein Problem der Akzeptanz. Im sozialen Bereich stehen die Menschen im Mittelpunkt. Technik widerspricht dem gar nicht, aber die soziale Komponente des Technikeinsatzes ist bislang vernachlässigt worden. Folge ist eine verbreitete Technikskepsis. Daher ist zu begrüßen, dass Politik und Anbieter langsam Digitalisierung nicht länger nur im Sinne einer technikunterstützten, effizienteren Arbeit verstehen, sondern auch den Bewohnern technische Unterstützungen geben.
Da die Digitalisierung ein Prozess ist, der nahezu alle Lebensbereiche umfasst, lohnt es sich, verschiedene Bereiche zu unterscheiden, in denen Technik in der Altenhilfe eingesetzt wird:
Digitalisierung in Alltagsunterstützung, Medizin und Pflege
Technologische und digitale Hilfen kommen sowohl in der häuslichen Pflege als auch in Pflegeheimen bereits in großer Zahl zum Einsatz. Im Hinblick auf Unterstützung im Alltag und bei der Pflege sind es vor allem Helfer, die unter dem Stichwort „smartes“ oder „intelligentes“ Heim zusammenfassen lassen, z.B. Sensormatten, Rufanlagen, Bewegungsmelder oder das chipgesteuerte Öffnen und Schließen von Türen. Trinkroboter, Anti-Dekubitus-Betten, Pflegeroboter und vieles mehr sind Unterstützungen für die Pflegekräfte und pflegenden Angehörigen.
Heiß diskutiert werden aktuell die Möglichkeiten der Telemedizin. Gemeint sind damit alle Arten von Diagnostik und Therapie, die stattfinden, ohne dass Arzt und Patient sich zur selben Zeit am selben Ort befinden, insbesondere die Videosprechstunde. Befürworter versprechen sich davon schnelle Hilfen, bessere Betreuung für immobile Patienten und die Möglichkeit, in Gebieten mit wenigen angesiedelten Haus- und Fachärzten die ärztliche Versorgung sicherzustellen.
Dass Maßnahmen der Telemedizin in Zukunft deutlich ausgebaut werden, scheint außer Frage: Mit Lockerung des Fernbehandlungsverbots auf dem Deutschen Ärztetag im Mai 2018 wurde der Weg dafür geebnet. Jetzt gilt es, vernünftige Regelungen dafür zu finden. Es muss zum Beispiel verhindert werden, dass Videosprechstunden, etwa aus Kostengründen, eine normale Sprechstunde ersetzen, die nicht nur für die Diagnosen, sondern auch für das Arzt-Patienten-Verhältnis schwerlich komplett zu ersetzen sind. Gerade im Hinblick auf schwer pflegebedürftige Bewohner von stationären Einrichtungen ist es notwendig, verbindliche Regularien aufzustellen. In der Regel reagieren Ärzte bei der Versorgung von Bewohnern stationärer Einrichtungen auf Hinweise des Pflegepersonals, da eine enge Patienten-Arzt-Beziehung gerade wegen der Pflegesituation in einer Einrichtung mit umfassenden Leistungsangebot häufig gar nicht gegeben ist (die Pflegekräfte sorgen für die Patienten). Wir wissen aus unserer Beratungsarbeit, dass ein Arzt mitunter auch ohne eigene Inaugenscheinnahme oder Überprüfung des Krankheitszustandes des Bewohners „auf Zuruf“ des Pflegepersonals reagiert. Derartige Situationen dürfen durch die Möglichkeit der Videovisitation nicht verschärft werden.
Besonders im Bereich der Demenz gibt es viele technologische Hilfen, bei denen allerdings immer darauf zu achten ist, ob deren Einsatz rechtliche Probleme nach sich ziehen kann. Automatisierte Hilfen, um demenziell veränderte Menschen zu betreuen, liegen nicht selten im Graubereich zu Freiheitsbeschränkenden Maßnahmen, die einer richterlichen Genehmigung bedürfen. Zum Beispiel wird Technik verwendet, Aufenthaltsbereiche in Stadtteilen, Wohnanlagen oder Pflegeheimen per GPS zu überwachen, es gibt Webcams in der Wohnung, damit der Angehörige weiß, was passiert. Gute Erfahrungen bei der Aktivierung von dementen Menschen hat man mit „Roboter-Tieren“ gemacht, wie der bekannten Pflegerobbe Paro.
Digitalisierung in Pflegeplanung, -dokumentation und Verwaltung
Neben der Pflege an sich, werden Technik und digitalen Medien insbesondere in allen Prozessen eingesetzt, an denen mehrere Menschen beteiligt sind. Aus dem Austausch und dem gemeinsamen Bearbeiten von Informationen ist digitale Technik auch im Pflegebereich nicht wegzudenken. Dort ist es vor allem der Bereich der Anamnese, der Pflegeplanung und der Pflegedokumentation, bei der Erfassung von Risikofaktoren, bei Checklisten oder Tabellen.
Im ambulanten Bereich werden die erbrachten Leistungen dokumentiert und sowohl zur Leistungsabrechnung, als auch zur Planung der Touren und Dienste genutzt. Häufig erfolgt der Leistungsnachweis direkt durch Eingabe in eine App, sodass der Betroffene oder seine Angehörigen gar kein Papier mehr abzeichnen müssen. Das ist praktisch und effizient, birgt aber auch die Gefahr, dass die Pflegebetroffenen den Überblick verlieren und im Falle von Unregelmäßigkeiten in der Abrechnung Probleme bekommen können, diese nachzuweisen.
Viele Kernprozesse im Bereich der Verwaltung werden inzwischen ebenfalls digital unterstützt und gesteuert. Dies betrifft insbesondere die Bereiche der Kommunikation (E-Mail, Videokonferenzen, Chats, Wissensmanagementprogramme), der Abrechnung (Leistungsabrechnung, Finanzbuchhaltung), der Datenverwaltung (Patientenverwaltung, Personalverwaltung) und der generellen Datenerfassungen (Statistik, Benchmarking, Auswertungen). Die Erfordernisse statistischer Angaben sind in Bundes- und Ländergesetzen geregelt.
Digitalisierung und der Pflegebetroffene: Zwischen Technikskepsis und Chancen
Standardisierung
Digitale Technik wird demnach heute in fast allen Bereichen eingesetzt und sie ist weit mehr als ein Hilfsmittel: Sie beeinflusst Inhalte, Vorgänge werden standardisiert und messbar gemacht. Die Inhalte, die in einer Software hinterlegt werden und den Pflegealltag strukturieren, haben beispielsweise großen Einfluss auf die geleistete Pflege, aber auch auf die zwischenmenschliche Zuwendung, die „nebenher“ stattfindet, und die Konzepte, nach denen gepflegt wird (s. hierzu den Artikel von Dr. Alfons Maurer: https://www.fromm-gesellschaft.eu/images/pdf-Dateien/Maurer_A_2018.pdf).
Effizienzsteigerung
Ohne Technik geht es nicht mehr – das gilt auch für die Altenhilfe. Wie in anderen Arbeitsfeldern auch, ist ihr Einsatz aber zwiespältig: Ziel ist einerseits Arbeitsentlastung und -erleichterung. Andererseits bewirkt die Digitalisierung der Arbeitsprozesse häufig das Gegenteil: Die zu leistende Arbeit wird mehr und mehr verdichtet. Zudem hat der Umgang mit digitaler Technik seine eigenen Aufwände und man braucht entsprechende Kenntnisse. Dadurch steigt der Druck – sowohl der Leistungsdruck als auch der (gefühlte) Zeitdruck, wenn die Informationen in Echtzeit ausgetauscht werden.
Datenschutz
Zudem wirft die massenhafte digitale Datenerhebung rechtliche Fragen auf, etwa in Hinblick auf Haftung, Persönlichkeits- oder Datenschutzrechte. Fest damit verbunden sind ethische Abwägungen: Wo überwiegt die informationelle Selbstbestimmung und wo Sicherheitsaspekte? Wo endet notwendige Kontrolle und beginnt die Selbstbestimmung? Diese Fragen stellen sich in allen Bereichen, die gerade in Kraft getretene Datenschutzgrundverordnung ist das vorerst letzte Zeugnis davon. In der Pflege sollte diesen Fragen aber besonders gewissenhaft nachgegangen werden, da es zum einen um sehr persönliche (Gesundheits-)Daten handelt und zum anderen viele Betroffene nicht mehr für sich selbst sprechen können.
Ist die Technikskepsis berechtigt?
Alles zusammen – erstens Standardisierung, zweitens Effizienzsteigerung und drittens Kontrollverlust über die eigenen Daten – kann aus Sicht der Pflegebedürftigen dazu führen, die Digitalisierungsprozesse in der Pflege als Schritt in die falsche Richtung wahrzunehmen. Die Chancen der Digitalisierung sind noch schwerer zu erkennen, aber zum Gelingen ist es notwendig, dass alle Beteiligten „mitmachen“. Dazu braucht es eine Nutzung der digitalen Technik, die auch die Pflegebedürftigen ernst nimmt und als Helfer im Hinblick auf soziale Beziehungen zu verstehen ist. Dreht man die Bedenken der Menschen um, kann Technik erstens auch die Sicherheit geben, dass (Mindest-)Standards niemals unterschritten werden, dass zweitens effizient arbeitende Pflegekräfte dadurch Zeit gewinnen für Zwischenmenschliches und drittens transparent und nachvollziehbar geklärt ist, welche Datenerhebung und welche Maßnahme tatsächlich notwendig sind. Dazu muss der Einsatz digitaler Technik reflektiert und an gesetzte Ziele gekoppelt werden.
Kurz: Die Digitalisierung darf nur Helfer sein und den sozialen Beziehungen untergeordnet. Sorgen und Ängste der Menschen müssen im Mittelpunkt stehen.
Um die Technikskepsis der Pflegebedürftigen zu überwinden, wäre es aber auch notwendig, diese mehr zu beteiligen. Wie in vielen anderen Bereichen im Gesundheitssektor auch werden die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen als Akteure nicht genügend ernst genommen. Man redet zu oft über die Pflegebedürftigen und zu wenig mit ihnen. Pflegeheimbewohner sind nicht nur Empfänger von technologischen Entwicklungen, sondern potentiell auch deren aktive Nutzer.
Der BIVA-Pflegeschutzbund hat nicht zuletzt durch seine Rechtsberatung sein Ohr nahe an den Sorgen und Problemen der Betroffenen. Daher wissen wir, dass auch noch lange nachdem Verwaltung und Pflegeprozesse vielfach digital unterstützt wurden, sich vergleichsweise wenige Gedanken um Technologien gemacht wurde, die Pflegebedürftige und ihre Angehörigen nutzen, etwa in der Kommunikation und der Freizeitgestaltung.
Technik als Mittel zur sozialen Teilhabe
Ein schlagendes Beispiel ist der Zugang zum Internet. Jeder, der schon einmal versucht hat, etwa einem Heimbeirat Informationen zukommen zu lassen, weiß, dass hier noch viel Handlungsbedarf besteht. Digital sind diese Personen selten zu erreichen. Sie können folglich weder schnell und unkompliziert per E-Mail angesprochen werden, noch selbst aus dem Internet Informationen beziehen. Die Frage nach einem funktionierenden Internetzugang wird in unserer Beratung häufig gestellt – von den Angehörigen und mittlerweile auch von den Pflegebedürftigen selbst.
Es ist zu begrüßen, dass aktuell Bewegung in die Sache kommt. So hat der Gesetzgeber in NRW festgelegt, dass Heime den Bewohnern Internetzugang per W-Lan zur Verfügung stellen müssen. Die Betreiber reagieren nun auch. Der Branchenriese Korian hat angekündigt, dass es noch in diesem Sommer in 100 Einrichtungen freies WLAN für Mitarbeiter, Bewohner und Besucher geben wird; bis Ende des Jahres soll dies in der Hälfte der Einrichtungen von Korian möglich sein.
Dass der Internetzugang rechtliche und technische Schwierigkeiten mit sich bringt und den Prozess verzögert, ist verständlich. Zum Beispiel müssen ältere Einrichtungen umgerüstet werden und das Ende der sogenannten Störerhaftung kam erst Ende 2017. Vorher musste der Anbieter exakt rückverfolgen können, wer wann und wo im angebotenen Netz tätig war.
Ein jahrelanger Verzug selbst im Vergleich zu öffentlichen Gebäuden ist dennoch nicht zu akzeptieren. Schließlich geht es dabei um die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Der Internetzugang gehört zum Leben dazu. Pflegebedürftige haben ihren Lebensmittelpunkt in der Einrichtung und sollten dort alles so vorfinden, dass sie sich auch wie zu Hause fühlen können. Dort, wo es Zugang zum Netz gibt, wird dieser vor allem genutzt, um auf dem Laufenden zu bleiben, zu Recherchezwecken und um Kontakt zu halten, etwa mit den Enkeln, über soziale Medien oder durch Videotelefonie. Gerade für Menschen mit Defiziten in der Kommunikation kann eine Kontaktaufnahme via Internet und / oder mit technischen Hilfsmitteln die Lösung sein, um überhaupt eine Interaktion mit anderen zu erreichen.
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