Chancen und Grenzen digitaler Assistenzsysteme in der Pflege
Die Corona-Pandemie hat das Thema Digitalisierung ganz oben auf die Agenda gesetzt –auch in der Pflege spielen digitale Helfer eine immer wichtigere Rolle. Einen Überblick über die verschiedenen Einsatzmöglichkeiten digitaler Technologien finden Sie hier.
Im Mai 2020 hat der Bundesrat eine Initiative zur Schaffung besserer Rahmenbedingungen für digitale altersgerechte Assistenzsysteme (AAL) in der Pflege gestartet. Vor dem Hintergrund häufiger Probleme bei der Anerkennung und Finanzierung von digitalen Assistenzsystemen für Pflegebedürftige ist es sicherlich sinnvoll, die Rahmenbedingungen dafür festzuschreiben.
Doch nicht alles, was machbar ist, sollte auch getan werden. Jetzt gilt es, die Potentiale der Digitalisierung vernünftig zum Wohl der Pflegebedürftigen zu nutzen. Vor dem Einsatz digitaler Assistenzsysteme gilt es fünf wichtige Fragen zu beantworten: Verbessert der Einsatz die körperliche Gesundheit des Pflegebedürftigen? Verbessert er das seelische Wohlbefinden des Pflegebedürftigen? Ist der Einsatz kostenneutral für die Pflegebedürftigen? Kann der Einsatz vom Pflegebedürftigen abgelehnt werden? Sorgt der Einsatz für mehr Transparenz in der Pflege?
Chancen digitaler Assistenzsysteme
Sinnvolle Einsatzmöglichkeiten für digitale Assistenzsystem gibt es fast überall im Pflegebereich: Sie können es Pflegebedürftigen ermöglichen, länger in der eigenen Häuslichkeit zu verbleiben, wie es der Wunsch der meisten ist; sie können körperliche und geistige Einschränkungen insoweit ausgleichen, als gesellschaftliche Teilhabe wieder möglich ist. Den Pflegekräften können Roboter etwa bei schweren Arbeiten, beim Transport von Verpflegung, bei der Wäsche oder ggf. als Unterstützung beim Heben schwerer Personen helfen. Es gibt auch hilfreiche Systeme, die nachts sich selbst oder andere gefährdende Heimbewohner (z.B. bei Demenz) überwachen. Und sie können die eklatanten Probleme in der pflegerischen Versorgung und Betreuung verbessern helfen.
Diese Probleme rühren oftmals von fehlendem Personal, das man durch Assistenzsysteme entlasten und damit bessere Arbeitsbedingungen schaffen kann. Das kann wiederum die Arbeitsmotivation der Pflegekräfte steigern und ihnen mehr Zeit für die Tätigkeiten geben, für die sie den Beruf erlernt haben: individuelle und körpernahe Leistungen und damit menschlicher Kontakt. So können auch Freiräume entstehen, um individuell auf die pflegebedürftige Person einzugehen, was aktuell leider nur selten der Fall ist.
Einsatz von Robotern genau durchdenken – Roboterethik
Entscheidend ist dabei eine grundsätzlich ethische Ausrichtung und keine rein ökonomische. Ziel muss es sein, die Lebensqualität pflegebedürftiger Menschen zu erhöhen, Prävention zu verbessern, Selbstbestimmtheit zu stärken, Sicherheit und gesellschaftliche Teilhabe zu verbessern und Pflegende zu entlasten, damit sie mehr Zeit für Betreuung und zwischenmenschliche Zuwendung haben – nicht aber, sie zu ersetzen. Ein Einsatz von Robotik in der Pflege ist überall dort wünschenswert, wo das Zwischenmenschliche dadurch nicht zurücktreten muss.
Keine Lösung für fehlendes Personal
Die Erwartungen an den Einsatz digitaler Hilfsmittel in der Pflege sind teilweise überzogen. Mitunter wird die Digitalisierung als Heilmittel für die eklatanten Probleme in der pflegerischen Versorgung und Betreuung beschrieben. Doch diese Probleme entstehen oftmals durch fehlendes Personal und schlechte Organisation in den Pflegeeinrichtungen. Assistenzsysteme können bei gleicher Lage neue und zusätzliche Probleme schaffen und für den Betroffenen die pflegerische Versorgung verschlechtern. Das gilt besonders dann, wenn der Einsatz der Assistenzsysteme vor allem aus ökonomischen Gründen erfolgt. Unser marktwirtschaftlich ausgerichtetes Pflegesystem legt den Entscheidern genau eine solche Überlegung nahe. Ihr Einsatz kann nur dann sinnvoll sein, wenn die Ziele gesichert sind. Ihr Einsatz muss die Lebensqualität pflegebedürftiger Menschen erhöhen und die Selbstbestimmtheit stärken. Ihr Einsatz muss dafür sorgen, dass Pflegende entlastet werden, mit dem Ziel mehr Zeit für Betreuung und zwischenmenschliche Zuwendung zu haben, nicht aber, um sie zu ersetzen. Nur bei einem solchen Einsatz von Robotik kann die Pflege- und Betreuungssituation tatsächlich verbessert werden.
Ethische Grenzen von Robotik in der Pflege
Kritisch zu sehen ist der Einsatz von Robotern bei körpernahen und sensiblen Leistungen, wie dem Darreichen von Nahrung, der Versorgung mit Medikamenten oder der Grundpflege. Aber auch dann, wenn eine digitale Überwachung von Körperfunktionen die alleinige Grundlage für pflegerische Tätigkeiten ist: wenn etwa die Vorlage nur gewechselt wird, weil der Sensor anzeigt, dass sie voll ist. Bei einem solchen Einsatz von Robotern wird die Pflege nicht individueller, sondern gibt im Gegenteil weniger Freiräume.
Roboter können naturgemäß nicht auf individuelle Bedürfnisse und Verhaltensweisen reagieren. Daher empfinden viele Menschen auf den Körper bezogene oder am Körper erfolgende Leistungen durch Maschinen entwürdigend oder haben Angst, dass Situationen entstehen, für die keine „Programmierung“ besteht und sie dann falsch oder grob behandelt werden.
Roboter als Helfer?
Eine große Herausforderung besteht vor dem Hintergrund dieser Ängste und Vorbehalte darin, für Akzeptanz der Assistenzsysteme zu sorgen. Dazu bedarf es nicht nur eines durchdachten Einsatzes und Konzepts, sondern auch einer offenen Kommunikation und dem Eingehen auf diese Sorgen und Ängste bis hin zu der Freiheit, den Einsatz auch abzulehnen. Fatal wäre die Situation, dass ein wirtschaftlich orientierter Heimbetreiber aus Kostengründen menschliches Personal abbaut, die Anschaffung der Robotiksysteme auf die Bewohner umlegt und zusätzlich einen erhöhten Aufwand bei denen abrechnet, die lieber anders gepflegt werden wollen.
Digitale Pflegedokumentation
Der höchste Verwaltungsaufwand für die Pflegekräfte liegt in der Pflegedokumentation. Dies kann aber nur eingeschränkt automatisiert werden, da der Prozess eine wichtige Kontrollfunktion hat. Schließlich darf hier nur dokumentiert werden, was tatsächlich erbracht wurde und es muss Platz geben für individuelle Anpassungen. Für den Pflegebedürftigen und seine Angehörigen ist die Pflegedokumentation von großer Bedeutung, um die Pflegequalität nachzuvollziehen. Eine fälschungssichere, digitale Eingabe der Informationen kann für deutlich mehr Transparenz sorgen. Ein intelligentes Assistenzsystem kann dabei helfen, wenn es Einträge auf Plausibilität prüft im Sinne eines Monitoring. Zudem ist es hilfreich, alle relevanten Informationen etwa auf einem Tablet mit im Bewohnerzimmer zu haben und gleich vor Ort zu dokumentieren, als dies später aus dem Gedächtnis zu tun. Wenn man den Pflegebedürftigen mit einbezieht und ihm währenddessen erzählt, was man dokumentiert, sorgt man zeitgleich für Transparenz und Ansprache des Pflegebedürftigen. Diese Dokumentationen können darüber hinaus problemlos dem Betroffenen selbst oder Bevollmächtigten zur Einsicht übermittelt werden. Angehörige bzw. Bevollmächtigte könnten so kontinuierlich über die aktuelle Situation des Bewohners informiert werden, sofern er dies selbst wünscht.
Zudem gilt es noch, den Einsatz von Sensoren und Kameras vor dem Hintergrund des Datenschutzes zu klären. Roboter liefern Bilder, Reaktionen und hochsensible medizinische Daten des Heimbewohners an Personen, die der so Behandelte nicht kennt.
Was bedeutet das für die Pflegekräfte?
Wie bei den Pflegebedürftigen, gibt es auch bei den Pflegekräften die Gefahr, dass Robotiksysteme keine Akzeptanz finden. Die Pflegekräfte fürchten eine rein ökonomisch motivierte Rationalisierung, nach der ihre Stelle durch Roboter ersetzt wird. Dieser Gedanke kann sich sogar negativ auf das drängendste Problem in der Altenpflege auswirken: Die Arbeitsbedingungen so zu verbessern, dass mehr junge Menschen diesen Beruf ergreifen. Lernende bzw. Berufsanfänger dürfen nicht dadurch abgeschreckt werden, dass sie befürchten, der Beruf habe keine ausreichend sichere Zukunft. Damit es nicht dazu kommt, sondern sich im Gegenteil die Arbeitsbedingungen tatsächlich verbessern, müssen hier klare Richtlinien vom Gesetzgeber festgelegt werden.
Zusätzlich sollte man frühzeitig thematisieren, dass sich das Berufsbild der Pflegefachkräfte ändern wird. Der Umgang mit digitalen Assistenzsystemen setzt neue, anspruchsvolle Fertigkeiten voraus. Die Berufsausbildung muss entsprechend erweitert und im Beruf stehende Pflegekräfte nachgeschult werden. Die Software-Firmen und die Lieferanten der Pflegeroboter sollten zudem vertraglich beim Erwerb zur Schulung der betreffenden Pflegekräfte im Heim speziell für den gelieferten Roboter (Bedienung, Wartung, Funktionsweise und Programmierung) verpflichtet werden.
Fazit
Die Digitalisierung darf nur Helfer sein und muss den sozialen Beziehungen untergeordnet werden. Die Sorgen und Ängste der Menschen müssen im Mittelpunkt stehen. Ein Einsatz von Robotik in der Pflege ist überall dort wünschenswert, wo das Zwischenmenschliche dadurch nicht zurücktreten muss. Es bedarf klarer Richtlinien vom Gesetzgeber, damit digitale Hilfsmittel sowohl bei den Pflegebedürftigen als auch beim Pflegepersonal Akzeptanz finden.