Ambulant vor stationär
Das Wichtigste in Kürze
- Seit 1995 gilt der Grundsatz „ambulant vor stationär“
- unterstützt die meisten Menschen bei ihrem Wunsch, auch bei Pflegebedürftigkeit zu Hause wohnen zu bleiben
- Aber: in ambulantisierten Einrichtungen gelten teilweise nicht die Verbraucherschutzgesetze der stationären Pflege
- Leistungen und Abrechnung sind weniger reguliert und mitunter teurer
Seit Jahren verändert die sogenannte Ambulantisierung den gesamten medizinischen und pflegerischen Bereich grundlegend. Der Grundsatz „ambulant vor stationär“ wurde mit Einführung der Pflegeversicherung bereits 1995 vorgegeben und seither weiterentwickelt. Ambulantisierung meint die Auslagerung sozialer und gesundheitlicher Versorgungsleistungen aus dem stationären in den ambulanten Bereich und eine allgemeine Bevorzugung ambulanter Versorgung. Die Voraussetzung für diesen kontinuierlichen Ausbau war medizinischer Fortschritt, und auch technische Technische Assistenzsysteme erleichtern die häusliche Versorgung Pflegebedürftiger.
Dieser Prozess betrifft Millionen von Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen. Dennoch gibt es nach wie vor wenig Wissen darüber und wenige Prognosen zur weiteren Entwicklung. Wo liegen die Chancen, wo die Gefahren und was werden die Auswirkungen des zweiten Pflegestärkungsgesetzes (PSG II) für die Verbraucher sein?
Chancen der Ambulantisierung
Die Mehrheit der Menschen möchte auch bei Eintreten von Pflegebedürftigkeit im eigenen Haushalt wohnen bleiben. Maßnahmen der Ambulantisierung ermöglichen dies. Im gewohnten Zuhause fällt es vielen Menschen leichter, weiterhin selbstbestimmt zu leben und an der Gesellschaft teilzuhaben.
Mitentscheidend für gute Pflege und Betreuung ist ein sogenannter „bedarfsgenauer Hilfemix“. Damit ist eine Kombination von Leistungen gemeint, die den individuellen Unterstützungsbedarf des Einzelnen genau erfüllen. Dieses maßgeschneiderte Konzept für den Einzelnen kann mit den größten Freiheiten in der Wahl im ambulanten Kontext umgesetzt werden. Auf Veränderungen im sozialen Netzwerk oder im Pflegebedarf kann flexibel und unmittelbar reagiert werden.
Ambulante Versorgung soll dazu dienen, Eigenständigkeit zu erhalten und möglichst früh niedrigschwellige Hilfen zu bieten. So kann ein höheres Maß an Pflegebedürftigkeit vermieden oder hinausgezögert werden. Dabei wird von Seiten der Gesundheits- und Sozialpolitik auch mit einkalkuliert, dass dies bei einem solchen Verlauf für den Kostenträger wesentlich günstiger ist als bei stationärer Versorgung.
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Gefahren der Ambulantisierung
Um eine ambulante Versorgung zu verwirklichen, kooperieren Pflegeeinrichtungen, ambulante Pflegedienst, sonstige Hilfsdienste, Beratungsstellen und nicht zuletzt die Angehörigen. Eine gelungene Umsetzung steht und fällt mit einem reibungslosen Ineinandergreifen der verschiedenen Beteiligten. Dieses Schnittstellenmanagement, die Koordinierung verschiedener Unterstützungs- und Hilfsangebote, ist dabei nicht selten ein Schwachpunkt. Oft hängt das Funktionieren entscheidend von den Angehörigen ab, die zusätzlich zu ihrer oftmals hohen pflegerischen und psychischen Belastung auch noch eine komplexe Koordinations-Aufgabe bewältigen müssen. Fehlen engagierte Angehörige oder sonstige Unterstützer aus dem sozialen Netzwerk der Pflegebedürftigen, kann dies sogar trotz funktionierender ambulanter Versorgung zu Vereinsamung und Verwahrlosung führen.
Ambulante Versorgung ist daher auch deswegen günstiger, weil ein Teil der Leistungen von professionellen Hilfesystemen auf Laien übertragen wurde. Eine Studie des Institutes der Deutschen Wirtschaft (IW) von Ende 2015 hat in diesem Zusammenhang aufgezeigt, dass eine Pflegepolitik, die vor allem auf Ambulantisierung setzt, zwangsläufig in den Pflegenotstand führt. Laut Studie fänden die notwendige Pflegeinfrastruktur und der damit verbundene Investitionsbedarf zu wenig Beachtung und würden dem sich ständig verändernden Pflegemarkt überlassen.
Ambulantisierung meint nicht nur Pflege im eigenen Haus, sondern vor allem einen prinzipiellen Kurswechsel von der stationären zur ambulanten Versorgung. Etwas irreführend, kann man in dem Zusammenhang von „ambulantisierten Einrichtungen“ sprechen. In der Praxis ist es häufig so, dass der Betreiber einer stationären Einrichtung einen ambulanten Pflegedienst gründet. Die Zimmer werden umgebaut, beispielsweise mit einer gemeinsamen Küche für mehrere Parteien ausgestattet, so dass man von einer Wohngemeinschaft sprechen kann. Entscheidend ist, dass von nun an Pflegeleistungen und Wohnleistungen nicht mehr aus einer Hand angeboten werden. Die pflegebedürftige Person kann ihren Pflegedienst jetzt theoretisch frei auswählen. In der Praxis spricht aber vieles dafür, bei der pflegerischen Versorgung durch die Tochterfirma des bisherigen Anbieters zu bleiben, schließlich sind die bereits bekannten Mitarbeiter 24 Stunden am Tag vor Ort. Für die Pflegebedürftigen ändert sich dabei wenig: dieselben Leistungen werden von denselben Personen erbracht. Die Einrichtung rechnet nun allerdings anders ab. Anstelle des pauschalen Pflegesatzes werden die Leistungen aufgesplittet und einzeln mit der Pflegekasse abgerechnet. Dies ist meist teurer. In einer Sendung von „Report Mainz“ wurde beispielsweise eine Umsatzsteigerung für die Einrichtung von ca. 30 Prozent recherchiert.
Oftmals ist die ambulante Versorgung nicht nur aufgrund höherer Kassenleistungen, sondern auch direkt für die Betroffenen teurer, vor allem wenn sie viele Pflegeleistungen in Anspruch nehmen. Grund dafür sind die Zuzahlungen zu den Leistungen, die bei jeder einzelnen Maßnahme abgerechnet werden und in Summe schnell die pauschale Zuzahlung in einer vollstationären Einrichtung übersteigen.
Änderungen bei der Ambulantisierung durch das PSG II
Die neuesten Änderungen des SGB XI, das Pflegestärkungsgesetz II (PSG II), soll Mehrkosten durch ambulante Versorgung im Vergleich zu stationären Leistungen für den Verbraucher entgegenwirken. Ab 2017 werden die Pflegesachleistungen in allen Pflegegraden teils erheblich erhöht, so dass sich eigene Zuzahlungen reduzieren werden. Für die Verbraucher sinken somit die direkten Kosten einer ambulanten Versorgung. Dies wird zur Folge haben, dass ambulantisierte Einrichtungen deutlich konkurrenzfähiger gegenüber vollstationären Einrichtungen sein werden als bisher und dass sich wohl mehr Menschen für ambulante Versorgungsformen entscheiden werden. Man kann davon ausgehen, dass die Zahl ambulantisierter Konzepte ab 2017 nochmals ansteigen wird. (TABELLE Pflegesachleistungen nach § 45b und vorher)
Worauf sollte ich achten?
Positiv gesehen sorgt die Ambulantisierung für einen Innovationsschub auf dem Pflegemarkt. Es entstehen neue Konzepte, Wohn- und Versorgungsformen, die vielleicht genau zu Ihren Bedürfnissen passen. Diese Vielfalt hat aber auch negative Auswirkungen. Pflegebedürftige Verbraucher:innen befinden sich in einer Situation der Abhängigkeit. Aus diesem Grund hat der Gesetzgeber Gesetze erlassen, um die Betroffenen zu schützen und die Pflegeleistungen zu regulieren. Manche Wohn- und Versorgungsformen sind allerdings beim Verfassen der Gesetze noch nicht denkbar gewesen, so dass nicht jede unter ihren Schutz fällt. Da die Heimgesetzgebung zum Teil in der Zuständigkeit der Länder liegt, gibt es große Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern. Informieren Sie sich am besten vor Unterschreiben eines Vertrages darüber, ob und welche Gesetze in Ihrem Fall greifen.
Hinterfragen Sie kritisch die Wahlmöglichkeit und Selbstbestimmung der Leistungsangebote und Leistungsanbieter. Wenn Sie an Ihrem Standort faktisch keine andere Möglichkeit haben, als Leistungen von Tochterfirmen des vollstationären Anbieters einzukaufen, sind zumindest die Argumente von Individualität nichtig oder schlimmstenfalls „Etikettenschwindel“. Fragen Sie dabei nach den Zusammenhängen zwischen den Firmen. Will man Ihnen keine Auskünfte geben, ist das ein Zeichen mangelnder Transparenz.
Wenn Sie in einer vollstationären Einrichtung leben und Ihnen das Angebot unterbreitet wird, einen neuen, „ambulantisierten“ Vertrag zu unterschreiben, überprüfen Sie dieses Angebot genau. Auch wenn sich in diesem Moment für Sie nichts verändert, können gravierende Auswirkungen spürbar werden, sobald sich an Ihrer Pflegebedürftigkeit etwas ändert. Der angepasste „Pflegemix“ kann zur Folge haben, dass sich mit jeder Leistungsänderung Zuzahlungen und Rahmenbedingungen ändern.